Spurensuche
Wissenschaftliches zum Turiner Grabtuch
"Betrachtet man allein die (bisherigen) Forschungsergebnisse, so brauchte man schon einen sehr starken Glauben an das Unmögliche, um noch die Meinung aufrechtzuerhalten, dass das Turiner Grabtuch ein künstlerisches Erzeugnis sei, etwa eines Malers aus dem Mittelalter.
Eine solche Meinung könnte man nach all den naturwissenschaftlichen Untersuchungen dann noch vertreten, wenn man diese exakten, einwandfreien Untersuchungsergebnisse völlig ignoriert. Das ist aber keine wissenschaftliche Haltung zur Erforschung der Wahrheit, keine ernstzunehmende Aussage, sondern höchstens die persönliche Meinung eines Phantasten.
Halten wir also … fest: Beim Turiner Grabtuch handelt es sich um ein wirkliches Grabtuch. Ist es aber das Grabtuch von Jesus Christus gewesen?"
Prof. em. Dr. Eberhard Lindner, Lehrstuhl für Technische Chemie, Hochschule Karlsruhe für Technik und Wirtschaft, in: Lindner, Eberhard: Das Grabtuch Jesu, Zeuge der Auferstehung, Karlsruhe 2009, S. 64.
Fotografie
Seit der ersten Fotografie des Grabtuchs versuchen Wissenschaftler verschiedener Disziplinen und auf unterschiedlichen Wegen, sich dem archäologischen Objekt „Grabtuch“ zu nähern: U.a. sind es Mediziner, Kriminologen, Chemiker, Physiker, Biologen, Mathematiker, Textilkundler, Archäologen und Historiker. Naturgemäß führt dabei nicht jeder Weg zum Ziel; Umwege ergeben aber oft neue Impulse. Zudem werden die Ergebnisse wissenschaftlicher Recherchen ständig überprüft. Es gibt auf der Welt wohl keinen Gegenstand, der so viele Arbeitsstunden auf sich gezogen hat und gleichzeitig so kontro-vers diskutiert wird wie das Grabtuch von Turin.
1898 ist ein wichtiges Jahr in Italien. Anlässlich des 50. Jahrestages der Verfassung des Königreichs Sardinien und Piemont (später wird daraus das italienische Königreich) und der 400-Jahrfeier der Kathedrale von Turin soll im Rahmen einer Ausstellung sakraler Kunst das Abbild auf dem Grabtuch erstmals fotografiert werden. Die Erlaubnis dazu erhält Secondo Pia, Rechtsanwalt und Bürgermeister der Stadt Asti, ein leidenschaftlicher Amateurfotograf. Unter großem Zeitdruck macht er zunächst am 25. Mai 1898 zwei Probeaufnahmen im Format 21 cm x 27 cm. Am 28. Mai belichtet er dann die endgültigen Fotoplatten im Format 50 cm x 60 cm.
Wenn man einen Menschen mittels der analogen Technik fotografisch aufnimmt, erscheint bei der Entwicklung des Fotos auf dem Fotonegativ eine schattenhafte, unscharfe Gestalt: Dunkles ist hell geworden, Helles dunkel. Erst auf dem Positiv-Abzug stimmen dann Licht und Dunkel wieder. Doch was Secondo Pia auf der Negativplatte sieht, ist das genaue Gegenteil. Auf dem Negativ erscheint der Körper des Mannes auf dem Tuch deutlich und realistisch. Sein Gesicht wirkt lebendig und ausdrucksstark. Im Umkehrschluss wird klar: Es ist das entwickelte Foto (s. Bild rechts), also letztlich das Grabtuch selbst, das die Eigenschaften eines Negativs trägt. Als solches bildet es erst die Voraussetzung für den realistischen, „normalen“ Anblick des Tuchs, aber eben erst auf seinem Foto-Negativ. Doch wie entstand dieses Abbild auf dem Tuch? Tatsächlich wird bis heute darüber gerätselt. Es bleibt ein Geheimnis des Tuchs.
Erforschung des Grabtuchs ("Sindonolgie")
Das Tuch, das Secondo Pia fotografierte, ist nach der letzten Messung ein 441 cm langes und 113 cm breites, kostbares Leinenstück. Es zeigt eine blassbeige, schattenhafte, konturenlose Abbildung: Einen Mann in voller Länge, in Vorder- und Rückansicht.
Seit Secondo Pias Fotografie bemühen sich Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen mit ihren Methoden die Informationen des Grabtuchs zu entschlüsseln.
Ihre Forschungen werden oft mit dem Begriff der „Sindonologie“ zusammengefasst. Mit „Sindonologie“ ist kein neuer wissenschaftlicher Forschungszweig bezeichnet. Vielmehr gilt „Sindonologie“ einfach als Sammelbecken des ganzen Spektrums wissenschaftlicher Studien rund um die Entstehung, die Datierung und die Identität des Grabtuchs. „Sindon“ ist das griechische Wort der Evangelisten Matthäus, Markus und Lukas für das Grableinen Jesu.
Zu den ersten Erforschern des Grabtuchs gehören ein Professor für Zoologie an der Pariser Sorbonne, Yves
Delage und sein Schüler, der Biologe Paul Vignon. Der Erste ein Agnostiker, der Zweite ein Katholik. Beide sind überzeugt: Kein Künstler des Mittelalters hätte einen menschlichen Körper anatomisch so korrekt darstellen können, wie er auf dem Turiner Grabtuch zu sehen ist.
Als sie ihre Erkenntnisse 1902 veröffentlichen, werden sie heftig angegriffen. Dies auch mit Kritik an ihrer wissenschaftlichen Beweisführung, vor allem aber mit dem Argument, dass sich wissenschaftliche Forschung nicht in den Dienst religiöser Themen stellen solle.
Auf der Grundlage neuer Fotografien des Grabtuchs von 1931 widmet sich ein erster Mediziner dem Grabtuch. Pierre Barbet ist Chirurg an einem Universitätskrankenhaus in Paris. In seinem Buch „Ein Arzt am Kalvarienberg“ beschreibt er das Leiden Jesu am Kreuz und die Ursachen seines Todes. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass das Turiner Grabtuch echt sein müsse, weil ein Arzt in ihm wie in einem Buch lesen könne. Ein Arzt wisse, wie ein menschlicher Körper auf die Tortur am Kreuz reagiert. Das aber zeige ihm das Grabtuch in medizinischer Präzision.
Barbet hat dabei als erster auf die ungewöhnliche Position der Handwunde aufmerksam gemacht. Durch die überkreuzte Stellung der Arme ist nur eine der beiden Handwunden sichtbar. Sie offenbart, dass der Kreuzigungsnagel nicht durch den Handteller, sondern durch die Handwurzel getrieben worden war. Dies widerspricht den Darstellungen der gesamten bisherigen Ikonografie. Sie zeigen die Handwunden des Gekreuzigten ausnahmslos im Handteller. (Siehe dazu auch das Kapitel „Handwunden“, S. 38ff.)
Auf dem Abbild fallen die fehlenden Daumen auf. An jeder Hand sind nur vier Finger zu sehen. Lange war man der Auffassung, dass es sich um eine Lähmung infolge einer Verletzung des „Nervus Medianus“ beim Eindringen des Nagels gehandelt habe, wodurch der Daumen nach innen gedreht worden sei. Dies stimmt aber mit der anatomischen Lage der Nervenbahnen nicht überein. Wahrscheinlich kamen die Daumen nicht in direkte Nähe zum Grabtuch und wurden so auch nicht abgebildet, weil sie, wie es ja auch natürlich geschieht, hinter die ihnen zugehörige Handinnenfläche zu liegen kamen.
Pflanzenkunde
Der Schweizer Kriminologe Max Frei-Sulzer darf 1973 erste Staubproben vom Grabtuch nehmen. Da er auf dem Gebiet der Pflanzenkunde promoviert hat, will er das Turiner Grabtuch auf Pflanzenpollen untersuchen. Pflanzenpollen können fest und für lange Zeit an Gegenständen haften bleiben. Sie überdauern unter bestimmten Voraussetzungen Jahrtausende. Sie sind für ihre Pflanzenarten so charakteristisch wie der Fingerabdruck für eine Person. Deshalb erlaubt es die Pollenkunde (Palinologie) unter bestimmten Umständen, den oder die Aufenthaltsort(e) eines Objektes zu rekonstruieren, unabhängig von dessen Alter: Kennt man erst die Pflanzenarten, die über ihre Pollen mit einem Gegenstand in Berührung gekommen sind, kann ihr jeweiliges geographisches Verteilungsmuster dabei helfen, den zurückgelegten Weg des betreffenden Gegenstandes nachzuvollziehen. Frei-Sulzer entnimmt 1973 und 1978 insgesamt 48 Haftstreifen mit einer speziellen Klebefolie auf einer Oberfläche von 240 qcm. Er kann 58 Arten identifizieren, die zu Pflanzen in Europa, Eurasien, im Mittelmeerraum und zum Nahen Osten gehören. Insgesamt finden sich 44 Pflanzenarten gehäuft in Palästina, 23 in Edessa und 14 in Konstantinopel. Frei-Sulzers Forschungen rufen positive und negative Reaktionen hervor.
Nach dem frühen Tod Frei-Sulzers gelangen die Proben in die USA und auf Umwegen zu Avinoam Danin und Uri Baruch, Pflanzenkundler der Hebräischen Universität von Jerusalem. Beide bestätigen den Großteil der Pollenanalyse Frei-Sulzers.
Danin findet zudem heraus, dass davon sich zwei Pflanzen, das „Buschige Jochblatt“ (Zygophyllum dumosum) und die „Dornige Distel“ (Gundelia tournefortii), in einem genau umschriebenen Gebiet der Wüstenzone Israels und Jordaniens konzentrieren. Möglicher Kontaktzeitraum für deren Pollen ist die Frühlingszeit um Ostern. Jedoch sind unter den Palinologen immer noch einige Fragen im Hinblick auf die Überlebensdauer einzelner Arten und der exakten Bestimmung ihrer Unterarten offen. Insgesamt wird aber klar: Die Pollen des Grabtuchs sind mit der überlieferten Tradition seiner „Reise“ von Jerusalem über Konstantinopel, Lirey und Chambery nach Turin kompatibel.
Das Abbild
Seit Beginn der „Sindonologie“ versuchen Wissenschaftler das Zustandekommen des Abbilds auf dem Grabtuch zu verstehen. Das Abbild als Gemälde schließen sie aus, unter anderem, weil weder Farbpigmente noch Pinselstriche zu entdecken sind. Das Grabtuchbild gleicht einer zweidimensionalen Projektion wie bei einer Fotografie. Das Bild kann daher weder ein natürlicher noch ein künstlicher Abdruck durch Anschmiegen des Tuches am dreidimensionalen Körper sein, da sich beim Flachstreichen des Tuchs zwangsläufig Verzerrungen der Körperproportionen ergeben hätten. Bis auf Blut und Serum findet man auf der Rückseite des Tuchs nichts, was auf Reste von durchgesickerten oder anders durchgedrungenen Bildspuren schließen ließe. Bis heute ist das Abbild nicht „handwerklich“ reproduzierbar. Sämtliche bis heute durchgeführten Nachahmungsversuche scheiterten: ihre physikalischen und chemischen Charakteristika fanden keine Entsprechung beim Grabtuch. Darüber hinaus ließen alle Abbildungsversuche die dreidimensionale Information und den Foto-Negativ Charakter des Originals vermissen. Aufschlussreich ist des Weiteren die Tatsache, dass das Abbild erst nach der Entstehung der Blutflecken zustande gekommen sein muss. Es ließ sich nämlich unter den Blutflecken keine bildgebende Verfärbung feststellen. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass das Tuch frei ist von Verwesungsspuren.
Ursprünglich wird das Natur-Leinen des Tuchs eierschalenfarben gewesen sein. Im Laufe der Zeit ist es dann zunehmend vergilbt. Im Bereich des Körperbildes aber ist diese Vergilbung außergewöhnlich stark, sie hebt sich deutlich sichtbar von der Tuchumgebung ab, hat aber in sich noch unterschiedliche „Farb“-Intensitäten.
Jeder Flachsfaden des Tuchs besteht aus 70-120 haarfeinen Flachsfasern. Aber nur wenige Fasern sind an der Oberfläche auch nur bestimmter Fäden in einem Umfang von einem Mikrometer (etwa 1/10 der Dicke eines Haares) von dieser verstärkten Vergilbung betroffen. Diese hauchdünne Vergilbungsschicht muss durch Oxydation und dem daraus resultierenden Wasserstoffentzug verursacht worden sein. Weitere Untersuchungen lassen vermuten, dass der Abdruck mit seiner dreidimensionalen Information durch eine Strahlung entstanden ist, die, vom Körper ausgehend, senkrecht auf das Tuch eingewirkt haben muss. An diesem Punkt wird es wohl unmöglich bleiben, dem Ursprung dieses Phänomens ausschließlich wissenschaftlich auf die Spur zu kommen.
Aus dem Abschlussbericht des „Shroud of Turin Research Projects“ (STURP), 1983:
„Die Wissenschaftler sind sich einig, dass das Bild durch etwas erzeugt wurde, das zur Oxydation (Sauerstoffaufnahme) und Dehydration (Wasserstoffentzug) der Mikrofasern des Leinens führte. Solche Veränderungen können durch unterschiedliche chemische und physikalische Prozesse entstehen. Kein bekannter chemischer oder physischer Prozess kann die Entstehung des Bildes völlig erklären, auch keine Verbindung physischer, chemischer, biologischer und medizinischer Um-stände.“
Bildanalyse
1977 untersuchen zwei amerikanische Physiker, Eric Jumper und John Jackson, ein Foto des Grabtuchs mit Hilfe eines speziellen, für den Weltraum entwickelten VP8-Bildanalyse-Verfahrens. Der Computer erstellt eine Helligkeitskarte nach den Entfernungen eines Objekts zum Objektiv in Werten zwischen schwarz (= 0) und weiß (= 255). Als sich das Ergebnis der Grabtuchanalyse auf dem Computermonitor aufbaut, staunen die beiden Wissenschaftler. Denn dort erscheint ein außerordentlich deutliches dreidimensionales Bild eines liegenden Mannes.
Worin besteht nun die dreidimensionale Information des Grabtuchs, vermittelt durch ein einziges Foto? Der Computer hatte errechnet, dass die unterschiedliche Intensität, also die unterschiedlichen Dunkelwerte der Abbildung des Gekreuzigten auf dem Tuch, exakt der jeweiligen Entfernung des Tuchs vom innenliegenden Körper entsprach. Diese Relation führte in ihrer errechneten Darstellung zu einem vertikalen Relief. Eine solche dreidimensionale Darstellung wäre von einer einzelnen, normalen Fotografie eines Körpers oder von einem Gemälde gar nicht ableitbar. Man erkannte, dass alles, was weiter als 4 cm vom Tuch entfernt lag, auf dem Tuch nicht mehr abgebildet wurde. Giovanni Tamburelli und sein Team von der Universität Turin verbessern ab 1978 noch einmal die Bildqualität dieser dreidimensionalen Darstellung.
Die Pilatus-Münze
1978 entdeckt der Physiker Dr. Eric Jumper auf einem der 3D-Bilder des VP8-Computers zwei runde Fremdkörper im Bereich der Augen des „Mannes auf dem Tuch“. In der Folge untersucht P. Francis Filas (S.J.) 1982 die Antlitz-Vergrößerung eines professionellen Schwarz-Weiß-Fotos. In den runden Fremdkörpern erkennt er jetzt Münzen. Auf den Münzen identifiziert er sogar Buchstaben (Y CAI) und eine Art Krummstab. Tatsächlich findet daraufhin ein Münzkundler (Numismatiker) eine kleine römische Münze im gleichen Durchmesser, mit einem Augurenstab und einer griechischen Inschrift: „TIBERIOY KAICAROC“. Diese Münze aus Judäa ist dem Kaiser Tiberius gewidmet und wurde in den Jahren 29-32 vom Statthalter Pontius Pilatus geprägt. Bald darauf werden die gleichen Münzen mit einer Fehlprägung entdeckt. Statt des griechischen
K („Kappa“) in KAICAROC (griech. für Kaiser) verwendete
hier der Münzmeister versehentlich das lateinische C wie Caesar (lat. für Kaiser): „TIBERIOY CAICAROC“. Das von Pater Filas entdeckte „Y CAI“ könnte theoretisch also Teil-Abbild einer solchen, fehlerhaften Münze sein. Pater Filas erntet nach der Veröffentlichung seiner Erkenntnisse unter den Sindonologen viel Zustimmung und viel Kritik. Einige Grabtuch-Forscher anerkennen wohl die Tatsache runder, kleiner Objekte auf den Augen des „Mannes auf dem Tuch“, auch, dass es sich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit um Münzen handeln könnte. Manche von ihnen bezweifeln aber, ob man in der unregelmäßigen Formung und Dichte der Silberkörner einer alten Schwarz-Weiß-Vergrößerung zweifelsfrei Buchstaben identifizieren kann. So faszinierend die Entdeckung der „Pilatus-Münze“ in diesem Zusammenhang ist, es sind bis jetzt keine weiteren, die Hypothese des Pater Filas bestätigenden Forschungen unternommen worden.
Blut Staub Mineralien
Die Frage, ob die Blutflecken auf dem Grabtuch aus menschlichem oder aus tierischem Blut bestehen oder einfach mit Pinsel und Farbe gemalt oder mit künstlichen Substanzen und Techniken erzeugt worden waren, beschäftigt die Wissenschaftler intensiv. Die entsprechenden Untersuchungen offenbaren das hohe morphologische und physiologische Detail-Niveau des Blutes auf dem Grabtuch. Verschiedene Lichtfilter-Untersuchungen und chemische Analysen diagnostizieren zweifelsfrei menschliches Blut. Forensische Untersuchungen machen klar: Das Blut entstammt den Wunden des „Mannes auf dem Tuch“. Unter dem Mikroskop lassen sich rote Blutkörperchen klar identifizieren.
Das Blut auf dem Grabtuch sieht weniger dunkel aus als altes Blut auf Textilien sonst. Das hat seinen Grund möglicherweise darin, dass der Anteil des Farbstoffs Bilirubin bei gefolterten Menschen massiv steigt. Die Blutgruppe AB ist offenbar noch umstritten. Darüber hinaus erkennen die Wissenschaftler, dass sich unter den Blutflecken kein Körperabbild befindet. Die Blutflecken erscheinen auf dem Tuch weder verwischt noch verzerrt, sie sind vollständig erhalten. Das Tuch zeigt keine Anzeichen von Verwesung in Gestalt von wässrigen Zerfallsprodukten. Zieht man zu diesen Erkenntnissen die Fotonegativ-Eigenschaft und die Dreidimensionalität des Abbilds hinzu, sind sämtliche Theorien menschengemachter, künstlicher Nachstellungen von Jesus im Grableinen oder künstlerischer Gemälde für die Entstehung des Abbilds
auszuschließen.
1978 untersuchen STURP-Wissenschaftler (Shroud of Turin Research Project) das Grabtuch unter dem Elektronenmikroskop. Auf dem Abdruck des linken Knies, auf Ferse und Nase finden die Wissenschaftler winzig kleine Reste von Straßenschmutz.
Bei stärkerer Vergrößerung stellt sich heraus, dass es sich um kleine Aragonit-Kristalle handelt. Ein Mineral als Calciumcarbonat, in diesem Fall mit Spuren von Strontium und Eisen. Es kommt genau so in dieser Zusammensetzung in der Erde Jerusalems vor.
Gewebe
Mechtild Flury-Lemberg, Textilkundlerin und Restauratorin antiker Textilien, untersucht und konserviert das Grabtuch, zuletzt im Jahr 2002. Nach ihrer Einschätzung lässt sowohl die Gewebestruktur als auch die Machart des Webfadens auf eine antike, wertvolle, professionelle Handarbeit aus ungefärbtem Naturleinen schließen. Das Gewebe in der Struktur eines 3 zu 1 Spitzgratköpers („Fischgrätmuster“) könnte durchaus aus den Manufakturen des Vorderen Orients stammen. Sowohl für die Gewebeart, als auch für die Webkantenbildung gibt es Parallelen zu Gewebefragmenten aus den Funden von Masada, einer jüdischen Festung aus der Zeit Jesu. Sie wurde 74 n. Chr. von den Römern zerstört.
Datierung
1988 werden kleine Proben vom Rand des Turiner Grabtuchs in drei Laboren in Zürich (Schweiz), Oxford (England) und Tucson (USA) einer Radiokarbondatierung (C14-Datierung) unterzogen. Das Ergebnis: Das Leinen soll erst zwischen 1260 und 1390 entstanden sein. Dieses Ergebnis wird heute von vielen Experten, darunter selbst dem Leiter des Oxforder Labors, infrage gestellt: „Schon eine Verunreinigung von 2% genügt, um das Ergebnis um 1500 Jahre zu verfälschen“, erklärt Prof. Christopher Ramsey 2008. Über mögliche relevante Verunreinigungen gibt es unterschiedliche Hypothesen, aber bislang keine weiterführende Forschung.
Die Untersuchung weist eine ganze Reihe von Mängeln und Unvorsichtigkeiten auf: Es existieren keine validen Untersuchungsprotokolle. Deswegen ist zum Beispiel auch das genaue Gewicht der Proben nicht bekannt. Die Messlabore behalfen sich in offiziellen Verlautbarungen mit „ca. 50 mg“ pro Probe. Es wurden massive statistische Fehler nachgewiesen.
Die Gewebeproben wurden an einer einzigen Stelle aus der linken, oberen Ecke entnommen. Eine Stelle, die häufig angefasst wurde und die zu den am meisten verschmutzten Bereichen des ganzen Tuchs gehört. Dazu scheint diese Stelle einmal mit Fremdfäden repariert worden zu sein. Einzelne Proben von der gleichen Stelle führen zwar meistens zu ähnlichen Ergebnissen, sind aber nicht repräsentativ für den zu untersuchenden Gegenstand. Man hätte die Proben an ganz unterschiedlichen Stellen des Grabtuchs nehmen müssen.
Der amerikanische Arzt Leonardo Garca-Valdes postuliert 1999, dass antikes Leinen, wenn es der Luft ausgesetzt ist, oft von einer Ablagerung aus Bakterien und Schimmelpilzen bedeckt sei. Er spricht von einer sogenannten „bioplastischen Umhüllung“. Diese Verunreinigung könne großen Einfluss auf das C14-Messergebnis ausüben, weil diese lebendigen Mikroorganismen im Laufe der Zeit selbst weiter Kohlenstoffatome aufnehmen und so das Ergebnis verfälschten. Allerdings ist die Art und Weise dieser Beeinflussung noch nicht befriedigend erforscht.
Auch in der Ägyptologie gibt es die Erfahrung, dass die C14-Methode bei Grableinen Messfehler aufzeigt. In manchen Fällen schätzte die C14-Datierung die Mumienbinden um Jahrhunderte jünger ein als die Mumie selbst. Dass die Radiokarbonmethode unter bestimmten Umständen zu signifikanten Unschärfen führen kann, ist allgemein bekannt.
Angesichts all dieser Mängel ist es unerlässlich, die Summe aller anderen wissenschaftlichen Untersuchungsergebnisse dieser C14-Datierung von 1988 gegenüber zu stellen.
Die Identität des Mannes auf dem Tuch
Offenbar ergeben sich viele Merkmale, die sowohl für das Grabtuch als archäologischer Quelle als auch für Jesus von Nazareth aus dem Blickwinkel der Quelle des Neuen Testaments typisch sind. Müsste man nicht daraus schließen, dass der „Mann auf dem Tuch“ identisch ist mit Jesus von Nazareth?
Im Bereich der angewandten Wissenschaften gibt es die Wahrscheinlichkeitsrechnung. Sie urteilt nicht nach wahr und nach falsch, sondern bestimmt durch die Angabe einer hypothetisch geschätzten Zahl den Grad der Wahrscheinlichkeit einer These. In unserem Falle würde man die Charakteristika bewerten, die „der Mann auf dem Tuch“ und Jesus von Nazareth – unabhängig voneinander – gemeinsam haben. Merkmalen, die bei Kreuzigungen eher typisch waren, wird ein höherer Wahrscheinlichkeitswert zugeordnet. Eher unüblichen Merkmalen ein niedrigerer Wahrscheinlichkeitswert. Am Ende der Rechnung zählt die Wahrscheinlichkeit, dass nämlich die berücksichtigten Eigenschaften alle auf einen einzigen Gekreuzigten unter einer maximal angenommenen Anzahl von Gekreuzigten im Zeitraum von Kreuzigungen überhaupt, zutreffen. Die folgende Aufstellung und zahlenmäßige Bewertung hat Bruno Barberis, Professor für mathematische Physik in Turin, erstellt.
1. Einhüllen in ein Tuch
Der „Mann auf dem Tuch“ wurde nach seinem Tod in ein wertvolles Tuch gehüllt und ehrenvoll bestattet. Dies war in der Römerzeit bei einer Kreuzigung sehr selten. Man ließ die Leichname entweder am Kreuz als leichte Beute der Tiere hängen oder man verscharrte sie etwa in einem Massengrab. Die Evangelien berichten, dass auch Jesus nach seiner Kreuzabnahme in ein Leinentuch gehüllt und anschließend in einer noch unbenutzten Grabhöhle bestattet wurde. (angenommene Wahrscheinlichkeit 1/100)
2. Die Kopfverletzungen
Beim „Mann auf dem Tuch“ erkennt man auf dem Kopf Verletzungen, die von einem Gegenstand wie einer Haube aus Dornen verursacht worden sein können. Ein für Kreuzigungen sehr seltenes und im Altertum nirgends belegtes Phänomen. Jesus wurde vor seiner Kreuzigung als Spotthuldigung mit einer Dornenkrone gekrönt. (angenommene Wahrscheinlichkeit 1/5000)
3. Das Tragen des Kreuzes
Sowohl der „Mann auf dem Tuch“, als auch Jesus trugen einen schweren Gegenstand auf den Schultern, wohl den Querbalken des Kreuzes. (angenommene Wahrscheinlichkeit 1/2)
4. Die Kreuzigung durch Nägel
Der „Mann auf dem Tuch“ war mit Nägeln ans Kreuz geschlagen worden, was ausschließlich bei gerichtlichen Verurteilungen zum Kreuzestod geschah. Auch Jesus wurde mit Nägeln, die ihm Hände und Füße durchdrangen, am Kreuz befestigt. (angenommene Wahrscheinlichkeit 1/2)
5. Wunde an der Seite
Dem „Mann auf dem Tuch“ wurden die Beine zur Beschleunigung seines Todes nicht gebrochen, aber er hat an der Seite eine Stichwunde, die ihm erst nach Eintreten des Todes zugefügt wurde. Auch Jesus wurden die Beine nicht gebrochen, aber es wurde auch ihm zur Überprüfung seines Todes die Seite mit einer Lanze geöffnet. (angenommene Wahrscheinlichkeit 1/10)
6. Die eilige und provisorische Bestattung
Gleich nach der Kreuzesabnahme wurde der „Mann auf dem Tuch“ ohne Waschung und Salbung ins Tuch gelegt. Für die Beigabe von Aloe und Myrrhe war offenbar gerade noch Zeit. Auch Jesus wurde nur mit einem Minimum jüdischer Bestattungsriten ins Grab gelegt. Wegen des nahenden Pascha-Festes (ab Sonnenuntergang) war für die Beendigung des Bestattungsritus keine Zeit mehr. (angenommene Wahrscheinlichkeit 1/20)
7. Die kurze Dauer des Verbleibs des Leichnams im
Leinentuch nach der Bestattung Der „Mann auf dem Tuch“ war nur für kurze Zeit in das Grabtuch gehüllt. Keinesfalls länger als 2 bis 3 Tage, da das Tuch keine Verwesungsspuren des Leichnams zeigt. Jesus wurde direkt nach seiner Kreuzesabnahme in ein Leinentuch gehüllt. Nach einer Zeitspanne von maximal vierzig Stunden wurde im vorher streng bewachten Grab nur mehr noch das Leinen, nicht aber mehr der innenliegende Leichnam gefunden. (angenommene Wahrscheinlichkeit 1/500)
Die Wahrscheinlichkeit, dass alle diese sieben Charakteristika gleichzeitig auf einen einzigen Gekreuzigten zutreffen, steht somit bei 1 zu 200 Milliarden. Daraus folgt rechnerisch, dass nur ein Gekreuzigter unter 200 Milliarden diese sieben Merkmale auf sich vereinigen könnte. Weil diese sieben beschriebenen Merkmale des Mannes auf dem Grabtuch aber in historischen Quellen beschrieben werden, nämlich im Zeugnis der Evangelien von der Passion Jesu von Nazareth, und es darüber hinaus in der Geschichte weit weniger als 200 Milliarden Kreuzigungen gegeben hat, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass der Mann auf dem Grabtuch Jesus von Nazareth gewesen sein könnte.
Geschichte - Die Frühzeit des Grabtuchs
Die historische Überlieferungslage ist beim Turiner Grabtuch ausgesprochen schwierig. Erst ab 1389 gibt es klar zuzuordnende schriftliche Quellen. Für die Frühzeit des Grabtuchs gibt es keine Akten und Urkunden, es sind vor allem Überlieferungen und ikonographische Indizien, die zu durchaus berechtigten Hypothesen führen.
Das Johannes-Evangelium (Joh 20,5ff) betont ausdrücklich die Relevanz der Tücher im leeren Grab, sie sind ein Erstimpuls für den Auferstehungsglauben der Jünger. Gesetzt den Fall, das Grabtuch wurde von den ersten Christen aufbewahrt, so gibt es zwingende Gründe, weswegen sie es für lange Zeit weder zeigen noch davon sprechen konnten:
- Ein Grabtuch war im Judentum als Tuch eines Toten der Inbegriff von Unreinheit.
- Die Verehrung des Grabtuchs samt seines Christusbildes wäre von der jüdischen Gemeinde als Bilderverehrung („Idolatrie“) verfolgt worden.
- Für die römische Gesetzgebung wäre die Darstellung eines gekreuzigten Staatsverbrechers ein Staatsverbrechen gewesen.
- Das Bild eines Gekreuzigten war vor dem Konzil von Nicäa (325 n. Chr.) allgemein verpönt.
Überhaupt ist anzumerken, dass die Kunstgeschichte Bilder des Gekreuzigten erst ab dem 5. Jahrhundert kennt. Wollte man das Grabtuch aber weiter als Reliquie lebendig erhalten, musste es auf eine Weise präsentiert werden, dass es nicht als Leichentuch erkennbar war. Etwa durch eine spezielle Faltung, die nur das Antlitz sichtbar machte. Auf diese Weise wird sich nach und nach das Wissen um das Tuch als einem Grabtuch verloren haben, und die Suche nach Erzählungen zu dieser Bild-Reliquie lag nahe. Erst in byzantinischer Zeit wurde das Wissen um die Reliquie als einem Grabtuch wieder vollends bewusst. (Vgl. K. Dietz, in: Maier 2005, 105ff).
30 - 944 Edessa
Auf diesem Hintergrund wird die wichtigste Hypothese der historischen Grabtuchforschung umso wahrscheinlicher: Das Grabtuch könne mit dem seit dem frühen 4. Jahrhundert als Schutzheiligtum verehrten Christusbild der Stadt Edessa identisch sein. Von diesem Bild berichtet die sogenannte „Abgar-Legende“. Sie ist uns in vielen unterschiedlichen Texttraditionen und Sprachen überliefert.
König Abgar V. regiert zur Zeit Jesu in Edessa, der Hauptstadt des kleinen, von Rom noch unabhängigen, nord-mesopotamischen Königreichs Osrhoene. Die früheste Überlieferung der Abgar-Erzählung bietet Bischof Eusebius von Caesarea (gest. 340). Er berichtet von einem Briefwechsel, in dem der kranke König Abgar Jesus bittet, ihn zu besuchen und ihn zu heilen. Jesus habe erwidert, nicht nach Edessa kommen zu können, stattdessen aber einen Jünger zu schicken, damit dieser den König heile und die Botschaft des Lebens bringe.
Bischof Eusebius gehört zu den Kritikern der Ikonen-Frömmigkeit. Und so ist es auffällig, dass er, anders als in allen anderen Erzählsträngen, nicht von einem Bild Jesu als Geschenk für König Abgar berichtet.
Eine frühe syrische Erzählvariante (um 400) sagt, der Bote dieses Briefwechsels habe Jesus im Heiligen Land malen können und dieses heilende Bild nach Edessa gebracht. Spätestens im 6. Jahrhundert wird erzählt, Jesus selbst habe das Bild gewirkt, es sei nicht durch Menschenhand gemacht („acheiropoietos“), und Abgar sei bei der Begegnung mit dem Bild gesund geworden. Die meisten Tradierungen der Abgar-Erzählung beschreiben das Bild Jesu als reines Antlitzbild auf einem kleinen Tuch. Es gibt aber auch seltenere Varianten, die von der Körpergestalt Jesu auf einem langen Tuch berichten. Sämtliche Abgar-Bildüberlieferungen haben wesentliche Behauptungen gemeinsam: Das Edessa-Bild Jesu ist das getreue, authentische Abbild Jesu. Es zeigt sein Antlitz oder seltener seine Gestalt auf einem Tuch. Zudem ist ein undeutlicher Abdruck, wie gewischt oder wie durch Wasser oder wie durch Schweiß entstanden. Das Tuch ist hell oder weiß und aus Leinen. Erstaunlicherweise benennen viele Überlieferungen das Leinen mit einer der Vokabeln der Grabtücher Jesu im Neuen Testament: „Sindon“. Trotzdem wird daraus nie auf ein Grabtuch Jesu geschlossen. Das Tuchbild bleibt das Tuch des Königs Abgar. Mit dem Abbild des Gekreuzigten auf einem Grabtuch hätte man den Kontext der Abgar-Überlieferung verlassen müssen. Man kann aber sagen, dass sich die Beschreibungen des Edessa-Bildes im Laufe der Zeit immer deutlicher den Charakteristika des Grabtuchs annähern. Nach und nach erhält das Edessa-Bild unterschiedliche Bezeichnungen: „Sindon“ oder „acheiropoietos“ als das „nicht von Menschenhand Gemachte“oder seltener „Tetradiplon“ (vierfach-doppelt Gefaltetes).
Die Ikonografie beschreibt eine einschneidende Wende: Mit der Verehrung des Edessa-Bildes beginnt sich bereits ab dem 4. Jahrhundert die Darstellung Jesu im Osten wie im Westen zu verändern. Die symbolischen Darstellungen Jesu aus der Frühzeit (z. B. das „Lamm Gottes“, der „Gute Hirte“, die „Unbesiegbare Sonne“ oder der „Apollos“) werden vom individuellen Portrait der Person Jesu abgelöst. Jetzt verändert sich der bartlose Jüngling zu einem reifen Mann mit Bart und Stirnlocke, sowie langen, in der Mitte gescheitelten Haaren, charakteristischen großen Augen und einer langen, schmalen Nase. Um 700 lässt der byzantinische Kaiser Justinian II. das Edessa-Bild erstmals auf Münzen prägen. Er befiehlt, Jesus nicht mehr symbolisch als Lamm, sondern nach seinem menschlichen Bildnis darzustellen. Die biometrischen Proportionen des Gesichts auf dem Grabtuch und des Portraits Jesu auf diesen Münzen sind in ihren wesentlichen Merkmalen kongruent. Nach dem endgültigen Ende des oströmischen Bilderstreits (843) und dem Sieg der Anhänger der Ikonenverehrung wird in jeder Kirche des Ostens ein gemaltes längliches Tuch (Mandylion) mit dem Antlitzbild Jesu gezeigt.
Ob sich schon König Abgar V. zu Jesus Christus bekannt hat und damit zum ersten christlichen König überhaupt wurde, ist umstritten. Unterschiedlichen Abgar-Überlieferungen zufolge soll entweder Judas Thaddäus (einer der 12 Jünger) oder Thaddäus v. Edessa (einer der 70 Jünger), König Abgar besucht, ihn geheilt und das Evangelium nach Osrhoene gebracht haben.
Anfang des 3. Jahrhunderts verliert das christliche Osrhoene seine Unabhängigkeit. Es wird römische Provinz mit Edessa als Sitz des Statthalters. Mit der „Konstantinischen Wende“ ab 313 übernimmt das ganze römische Reich das Christentum. Im 4. Jahrhundert soll das Edessa-Bild, weil man es vor Hochwasser schützen wollte, in die Stadtmauer Edessas eingemauert worden und dann bis zum Beginn des 6. Jahrhunderts vergessen worden sein. Als die Perser Osrhoene Anfang des 6. Jahrhunderts bedrohten, soll das Bild im Zuge von Befestigungsarbeiten an der Stadtmauer in seinem Versteck wiedergefunden worden sein. Die Perser wurden abgewehrt. Als Schutzheiligtum Edessas wird das Abgar-Bild nun wieder hochverehrt und regelmäßig ausgestellt. Es entstehen überall Kopien. Tatsächlich lässt sich ab dem 6. Jahrhundert eine besonders ausgeprägte Verehrung des Tuchs, vor allem im oströmischen, aber auch im weströmischen Reich beobachten. 640 erobern die Araber Edessa.
944 -1204 Konstantinopel
944 unternimmt Kaiser Romanos von Byzanz einen Feldzug gegen das Abbasiden-Kalifat, um die Herausgabe des Tuchbilds zu erzwingen. Seine Truppen ziehen erst ab, als die Bewohner Edessas das Tuchbild herausgeben. Am 16. August kommt das Edessa-Bild in Konstantinopel an und wird in einer feierlichen Prozession durch die Stadt getragen. Erzdiakon Gregorius Referendarius hält eine uns überlieferte Predigt anlässlich der festlichen Ankunft des Tuchs. Er spricht vom »Abdruck des lebendigen Urbildes, eingeprägt vom Schweiß der Todesangst … das wahre Abbild Christi, verschönt durch die Tropfen, die seiner Seite entquollen ... Blut und Wasser dort, Schweiß und das Bild hier.« Das Edessa-Bild zählt nun als wichtigste Herrenreliquie zu den Passionsreliquien Konstantinopels und wird zum Schutzheiligtum des Reichs. Es wird jetzt nicht nur Edessa- oder Abgar-Bild genannt, meistens heißt es „Mandylion“. Anfangs wird es in der Hagia Sophia verehrt, gelangt aber dann in die kaiserliche Pharoskapelle des Bukoleon, wo es im Zuge des Bilderstreits immer seltener gezeigt und dann schließlich unzugänglich an der Decke der Pharoskapelle verborgen wird.
Das Gero Kreuz
Der deutsche Kaiser Otto I. will die Bindung zwischen dem ost- und dem weströmischen Reich stärken und sucht für seinen Sohn Otto II. nach einer Braut aus Byzanz. Der Kölner Erzbischof Gero wird aufgrund dessen 971 auf Brautschau nach Konstantinopel geschickt. Frucht dieser Reise ist 972 die Hochzeit Ottos II. mit der byzantinischen Prinzessin Theophanu. Eine weitere Frucht kann aber auch das berühmte Gero Kreuz des Kölner Doms gewesen sein. Das Gero Kreuz bricht radikal mit der bisherigen Tradition der romanischen Kreuzesdarstellung und zeigt den Gekreuzigten schonungslos naturalistisch als nach schwerer Tortur Gestorbenen. Darüber hinaus sind die körperlichen und physiognomischen Proportionen deckungsgleich mit dem Gekreuzigten des Grabtuchs. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass man in Konstantinopel dem Bischof das hochverehrte Mandylion gezeigt hat und dass er es nun als normatives Vorbild für das lebensgroße Holzkreuz nimmt, das er nach seiner Reise in Auftrag gibt.
Der Codex Pray
Die älteste ungarische Handschrift, der „Codex Pray“
(um 1190), zeigt auf zwei übereinanderliegenden Zeichnungen die Salbung Jesu und den Besuch der Frauen am leeren Grab. Die obere Zeichnung stellt den Leichnam Jesu dar, er liegt mit über dem Schoß gekreuzten Händen – die Hände präsentieren nur vier Finger – auf einem langen, weißen Tuch. Auf der unteren Zeichnung sind ein Engel und die drei Frau-en gemalt. Im Vordergrund liegt ein in gleicher Länge übergeschlagenes, gemustertes, langes Tuch. Diese Darstellung fokussiert regelrecht die Gewebestruktur (Fischgrätmuster) des Tuchs und dessen L-förmige Löcher („poker holes“ als Folge einer tropfenförmigen Verätzung). Das Fischgrätmuster und die „poker holes“ werden so zu einer Signatur: Nur dieses Tuch ist Jesu Grabtuch! Möglicherweise hatte der „Codex Pray“ eine noch ältere Vorlage.
Im 12. Jahrhundert gab es enge verwandtschaftliche Beziehungen zwischen Byzanz und Budapest. 1104 heiratete Kaiser Johannes II. Komnenos die fromme Piroska von Ungarn. Sie nahm als Kaiserin Irene die Orthodoxie an und hat sich wäh-rend des ersten Bilderstreits vehement für die Ikonenverehrung eingesetzt. Nach ihrem Tod wurde sie zu einer Heiligen der Orthodoxie. Ihre Enkelin Maria verlobte sich 1165 mit dem ungarischen Thronfolger Bela III. Es ist leicht vorstellbar, dass das Mandylion der Pharos-Kapelle – oder auch nur eine Kopie des Tuchs – während dieser Zeit einmal einer ungarischen Delegation zur Verehrung gezeigt wurde. Das in Byzanz Geschaute könnte dann seinen detaillierten Niederschlag in der ungarischen Buchmalerei des „Codex Pray“ gefunden haben.
1204-1206 Der vierte Kreuzzug und die Folgen
Das Grabtuch wechselt von Ost nach West
Venezianer Konstantinopel. Sie morden und brandschatzen, ganz gegen ihr feierlich abgelegtes Versprechen, auf ihrem Kreuzzug nie gegen Christen zu kämpfen, und sie berauben die Kaiserstadt aller ihrer Kostbarkeiten. Der einfache französische Kreuzritter Robert de Clari berichtet als Augenzeuge in seiner Beschreibung Konstantinopels samt einer kurzen Chronik des Vierten Kreuzzugs „von einer Kirche, die sie St. Maria in den Blachernen nannten. Dort wurde das Sydoine (Sindon) verehrt, in das unser Herr gehüllt war und das jeden Freitag aufrecht aufgestellt wurde, sodass die Gestalt Unseres Herrn noch deutlicher gesehen werden konnte. Und keiner, weder Grieche noch Franke, sollte je erfahren, wo das Sydoine verblieb, nachdem die Stadt eingenommen wurde.“
Eine zweite aufschlussreiche, wenn auch in ihrer Zuverlässigkeit umstrittene Quelle, ist der Beschwerdebrief des Theodoros Angelos Komnenos aus der Familie des gestürzten Kaisers an Papst Innozenz III. vom 1. August 1205: „Die Venezianer zogen ab mit Schätzen aus Gold, Silber und Elfenbein, während die Franzosen dasselbe taten mit den Reliquien der Heiligen und dem Heiligsten von allem, darunter dem Leinen, in das Unser Herr Jesus Christus nach seinem Tod und vor der Auferstehung gehüllt war. Wir wissen, dass … das heilige Leinen in Athen aufbewahrt wird.“ Innozenz III. verbietet daraufhin den Diebstahl von Reliquien unter Androhung von Exkommunikation. Wo immer also das Mandylion nach 1204 aufgehoben wurde, es zu zeigen, hätte unangenehme Konsequenzen haben können.
1206-1389 Der unklare Transfer des Tuchs von Ost nach West
Dem Grabtuch zweifelsfrei zuweisbare schriftliche Urkunden gibt es erst ab dem Jahre 1389 im Zusammenhang mit der Familie des Ritters Geoffroy I. de Charny. Dem Weg des Tuchs von 1206 bis 1389 ist nicht eindeutig auf die Spur zu kommen. Und so führt die unklare, teilweise widersprüchliche Quellenlage für diesen Zeitraum zu ganz unterschiedlichen Hypothesen:
- Nach der Eroberung von Byzanz und der Verteilung von byzantinischem Grund und Boden erhalten verdiente und führende Kreuzritter Lehensgüter u. a. in Griechenland. Und so soll das erbeutete Grabtuch nach Athen gelangt sein, auf das neue Lehensgut des französischen Kreuzritters Othon de la Roche. Othon hatte bei der Eroberung von Konstantinopel wohl den Bereich des kaiserlichen Distriktes unter seinem Befehl. Othon soll das Grabtuch nach einiger Zeit dann von Athen auf seine Burg nach Burgund gebracht haben.
- Die zweite Frau des Geoffroy I. de Charny, Jeanne de Vergy ist offenbar die Ururenkelin des Othon de la Roche. Erst über sie soll das Grabtuch in den Besitz der Charny´s gekommen sein.
- Das Grabtuch soll unerkannt, weil seit dem Bilderstreit schon lange in der Pharos-Kapelle verborgen, auch noch nach der Eroberung Konstantinopels in der ehemaligen Kapelle des Kaisers verblieben und erst 1241 mit einigen anderen Reliquien in die Sainte Chapelle nach Paris transferiert worden sein. Um 1343 soll der französische König Philippe VI. den hochverdienten und königstreuen Ritter Geoffroy de Charny mit dem Tuch beschenkt haben.
- Das Tuch soll seinen Weg nach Europa und damit zur Familie de Charny über den Orden der Templer genommen haben.
- Der Mangel an gesicherten Dokumenten von 1206 bis 1389 ist manchem Historiker bereits hinreichender Grund für eine mittelalterliche Datierung des Grabtuchs.
1356 -1389 Lirey
Der bekannte Ritter Geoffroy I. de Charny lässt zwischen 1355 und 1356, jedenfalls nach seiner Hochzeit mit seiner zweiten Frau Jeanne de Vergy und kurz vor seinem Tod, eine kleine Kanoniker-Kirche auf seinem bescheidenen Lehen in Lirey erbauen. Vorher hat er beim Papst um die Erlaubnis zum Bau dieser Kanoniker-Kirche und zu einem Ablass in dieser Maria geweihten Kirche gebeten. Ersteres muss als Bedingung für den Bau genehmigt worden sein. Wie mehrere Dokumente bezeugen, wird in der neuen Kirche sofort ein langes Tuch mit der Abbildung eines Gekreuzigten zur Verehrung ausgestellt. In der Folge kommen viele Pilger nach Lirey. Zeuge dieser Ausstellung ist eine Pilgermedaille aus Blei. Sie wurde 1855 im Schlamm der Seine in Paris gefunden und zeigt ein langes Tuch mit Fischgrätmuster, darauf die der Länge nach am „Scheitel-Punkt“ aneinander gelegte Vorder- und Rückansicht des Gekreuzigten und die beiden Wappen der Eheleute Geoffroy I. de Charny und der Jeanne de Vergy.
Als der Sohn Geoffroy II. von Charny und seine Mutter
Jeanne das Grabtuch nach langer Unterbrechung wieder ausstellen wollen und dafür geradewegs in Rom um Erlaubnis bitten, interveniert der zuständige Bischof von Troyes, Pierre d´Arcis. Der Bischof hat nach einem Brand in seiner Kathedrale, in der viele Reliquien verloren gegangen waren, große Finanzsorgen. Er verbietet die einträgliche Ausstellung und Verehrung des Grabtuchs im kleinen Lirey mit dem Argument, das Tuch sei gefälscht, das Geständnis eines Künstlers läge vor. Als es zum Streit kommt und der Papst angerufen wird, findet Papst Clemens VII. 1389 einen Kompromiss, den er in zwei päpstlichen Bullen erlässt. Er erlegt dem Bischof bei Exkommunikation strengstes Stillschweigen auf. Pierre d´Arcis darf das Ausstellungsverbot nie wieder erteilen. Die Familie de Charny darf das Grabtuch, beschrieben als „das heilige Grabtuch mit dem Bildnis unseres Retters und Erlösers“, weiter zur Verehrung ausstellen, erst einmal aber nur wie eine Ikone, nicht als echte Grab-Reliquie. In der zweiten Bulle gewährt der Papst dann allerdings einen Ablass speziell bei der Verehrung des Tuchs. Mit seinem ausführlichen Memorial von 1389, in dem der Bischof von Troyes die Geschichte des Grabtuchs ab der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts beschreibt, versucht Pierre d´Arcis sein vorauseilendes Verbot der Ausstellung vor dem Papst zu rechtfertigen. Auf dieses Memorial mit der Argumentation des Bischofs, das Grabtuch sei das Werk eines Künstlers, berufen sich seit Anfang des 20. Jahrhunderts nicht wenige Kritiker des Grabtuchs, vor allem seit der C14-Datierung des Tuchs von 1988.
1453 -1578 Chambéry
1453. Das Grabtuch wird von der Tocher Geoffroy II. an das Haus Savoyen verkauft.
1506. Das Grabtuch kommt in die Schlosskapelle von Chambéry. Jetzt ist die offizielle Verehrung des Tuchs als Grabreliquie samt eigenem Festtag und Messen kirchlich zugelassen. Es kommen unzählige Pilger.
1532. Bei einem Feuer am 4. Dezember in der Sainte Chapelle von Chambery wird das Grabtuch schwer beschädigt. Es bleiben auffällige Brandflecken und -löcher sowie Löschwasserspuren.
Während der Kriege zwischen Franz I. und Karl V., in die auch Herzog Karl II. von Savoyen involviert ist, sind unterschiedliche Aufenthaltsorte des Tuchs benannt, bis es nach Chambéry zurückkehrt.
1578-heute Turin
1578. Das Grabtuch wird in die neue Hauptstadt des Savoyerreiches nach Turin überführt, wo ihm zwischen Dom und Residenz eine eigene Kapelle errichtet wird. Das Tuch wird als göttliche Legitimation für das Haus Savoyen angesehen.
1694. Das Tuch findet in der Kapelle des Guarino Guarini seinen endgültigen Platz. Die Kapelle wird hinter dem Presbyterium des Turiner Doms errichtet, ist jedoch mit dem Dom und dem ehemaligen Königspalast verbunden.
1898. Für eine Ausstellung sakraler Kunst anlässlich wichtiger Jubiläen erhält Secondo Pia als Erster die Erlaubnis, das Grabtuch zu fotografieren und entdeckt den Negativcharakter seines Abbilds. Daraus entstehen viele Untersuchungen, die als „Sindonologie“ gesammelt werden.
1978. 40 Amerikanische und italienische Top-Wissenschaftler von STURP (Shroud of Turin Research Project) sammeln fünf Tage lang mit modernsten Instrumenten unterschiedlichste Daten, die in den nächsten Jahren ausgewertet werden.
1983. Umberto II., letzter König Italiens, stirbt. Testamentarisch hat er verfügt, das Grabtuch solle in den Besitz der Kirche übergehen, aber für immer in Turin bleiben.
1988. Radiokarbontests am Grabtuch ‚erweisen‘ die mittelalterliche Entstehung des Leinens.
1993. Anlässlich der Renovierung der Guarini-Kapelle wird das Tuch in ein Reliquiar hinter dem Hauptaltar des Turiner Doms verlegt.
1997. Am 11. April wird die Guarini-Kapelle bei einem Brand schwer beschädigt. Das Tuch kann jedoch von Turiner Feuerwehrleuten in Sicherheit gebracht werden.
2000. Das Grabtuch wird endgültig in einer über fünf Meter langen, klimatisierten und besonders gesicherten, 2500 kg schweren Vitrine untergebracht.
2002. Die Flicken, Rußrückstände des Feuers von 1532 und das alte Trägertuch („Hollandtuch“) werden vom Grabtuch entfernt. Das Tuch wird auf ein neues Trägertuch aufgebracht.
2015. Zur vorerst letzten Grabtuch-Ausstellung kommen Millionen Pilger nach Turin, unter ihnen Papst Franziskus.
2018. Die vollständig renovierte Guarini-Kapelle wird wieder eröffnet. Die Vitrine mit dem Grabtuch verbleibt jedoch in einer Seitenkapelle des Turiner Doms.
Geistliche Impulse
Mein Herz denkt an Dein Wort
„Sucht mein Angesicht“
Dein Angesicht, Herr
will ich suchen
Ich bin gewiss, zu schauen
die Güte des Herrn
im Land der Lebenden
(Psalm 27)
Aus dem Buch Jesaja
Seht, mein Knecht hat Erfolg, er wird groß sein und hoch erhaben. Viele haben sich über ihn entsetzt, so entstellt sah er aus, nicht mehr wie ein Mensch, seine Gestalt war nicht mehr die eines Menschen.
Jetzt aber setzt er viele Völker in Staunen, Könige müssen vor ihm verstummen. Denn was man ihnen noch nie erzählt hat, das sehen sie nun; was sie niemals hörten, das erfahren sie jetzt.
Wer hat unserer Kunde geglaubt? Der Arm des Herrn – wem wurde er offenbar? Vor seinen Augen wuchs er auf wie ein junger Spross, wie ein Wurzeltrieb aus trockenem Boden.
Er hatte keine schöne und edle Gestalt, so dass wir ihn anschauen mochten. Er sah nicht so aus, dass wir Gefallen fanden an ihm. Er wurde verachtet und von den Menschen gemieden, ein Mann voller Schmerzen, mit Krankheit vertraut. Wie einer, vor dem man das Gesicht verhüllt, war er verachtet; wir schätzten ihn nicht.
Aber er hat unsere Krankheit getragen und unsere Schmerzen auf sich geladen. Wir meinten, er sei von Gott geschlagen, von ihm getroffen und gebeugt. Doch er wurde durchbohrt wegen unserer Verbrechen, wegen unserer Sünden zermalmt. Zu unserem Heil lag die Strafe auf ihm, durch seine Wunden sind wir geheilt.
Wir hatten uns alle verirrt wie Schafe, jeder ging für sich seinen Weg. Doch der Herr lud auf ihn die Schuld von uns allen. Er wurde misshandelt und niedergedrückt, aber er tat seinen Mund nicht auf. Wie ein Lamm, das man zum Schlachten führt, und wie ein Schaf angesichts seiner Scherer, so tat auch er seinen Mund nicht auf.
Durch Haft und Gericht wurde er dahingerafft, doch wen kümmerte sein Geschick? Er wurde vom Land der Lebenden abgeschnitten und wegen der Verbrechen seines Volkes zu Tode getroffen. Bei den Ruchlosen gab man ihm sein Grab, bei den Verbrechern seine Ruhestätte, obwohl er kein Unrecht getan hat und kein trügerisches Wort in seinem Mund war.
Doch der Herr fand Gefallen an seinem zerschlagenen Knecht, er rettete den, der sein Leben als Sühnopfer
hingab. Er wird Nachkommen sehen und lange leben.
Der Plan des Herrn wird durch ihn gelingen. Nachdem er so vieles ertrug, erblickt er das Licht. Er sättigt sich an Erkenntnis. Mein Knecht, der gerechte, macht die vielen gerecht; er lädt ihre Schuld auf sich.
Deshalb gebe ich ihm seinen Anteil unter den Großen, und mit den Mächtigen teilt er die Beute, weil er sein Leben dem Tod preisgab und sich unter die Verbrecher rechnen ließ. Denn er trug die Sünden von vielen und trat für die Schuldigen ein.
(Jes 52,13ff; 53,1-12)